Leseproben Teil 1: »Chroniken von Mirad«

Neugierig auf das, was kommt?
Dann findet ihr hier Leseproben aus Büchern, die demnächst erscheinen.

Beginnen wir mit dem doch sehr rätselhaften Einstieg in:

Ich bin hier, mein Bruder.
Falgon und Schekira sahen nur das Mienenspiel auf seinem Gesicht, aber sie schienen zu ahnen, was in diesem Augenblick geschah, denn sie nickten einander zu.
Ergil?, wiederholte Twikus in Gedanken den Namen des Anderen.
So heiße ich.
Wir sind Brüder?
Zu diesem Schluss bin ich jedenfalls gekommen, nach reiflichem Nachsinnen.
Anscheinend ist das ja deine Spezialität.
So wie das Bogenschießen die deine.

”Spricht er gerade zu dir?”, erkundigte sich Falgon vorsichtig.
Twikus nickte. ”Wir sind Brüder.”
Der Alte breitete die Handflächen zum Himmel aus, wandte den Blick nach oben und seufzte. ”Es ist vollbracht! Hab Dank, du, Der-du-tust-was-dir-gefällt.”
”Wovon sprichst du, Oheim?”
”Das Siegel ist gebrochen”, antwortete Schekira und klang dabei noch feierlicher als zuvor bei der Aufzählung ihrer Ahnenreihe.
”Könnt ihr zwei euch nicht ein Mal klar und verständlich ausdrücken?”, jammerte Twikus.
Reiß dich zusammen!, maßregelte ihn Ergil. Es liegt doch auf der Hand, dass uns bis heute irgendetwas voneinander getrennt hat.
”Meinst du, das Siegel ist unter dem Druck der Gefahr zerbrochen oder durch die Angst um den Oheim?” Twikus merkte nicht, dass er vor Aufregung laut zu reden begonnen hatte.
Weil Schekira sich von ihm angesprochen fühlte, antwortete sie: ”Gewiss haben deine Gefühle beschleunigt, was früher oder später ohnehin geschehen wäre. Normalerweise.”
”Du machst mir Spaß, kleine Elvin …”
”Sprich nicht so respektlos zu Ihrer Hoheit!”, fiel ihm Falgon ins Wort.
”Das geht schon in Ordnung. Ich hab’s Ergil erlaubt”, beruhigte Schekira den Alten. ”Übrigens darfst du, alter Freund, dich getrost dem Jungen anschließen. Ich kenne dich ja immerhin seit deiner Geburt.”
Falgons Mund blieb offen stehen und war somit für weitere Zurechtweisungen blockiert.

Derweil verlieh Twikus seinem Erstaunen Ausdruck. ”Gibt es denn irgendwo auf Mirad ein Land, in dem Jungen wie ich normal sind?”
”Sagen wir, es gab so ein Reich.”
”Und wo lag es?”
”Im Süden, nicht sehr weit von hier. Die Menschen nennen es den Grünen Gürtel.”
”Du meinst Bilath-berdeor? Das Reich der Sirilim?”
”Du sagst es.”
”Das kann nicht sein. Sehe ich etwa aus wie einer vom Alten Volk?”
”Ein bisschen schon: Du bist schlank, sehnig, ausdauernd, wirst einmal von hohem Wuchs sein, und dein goldenes Haar …”
”Falgon hat gesagt, in Soodland gibt es viele blonde Burschen.”
”Warte ab, bis du einige von ihnen gesehen hast, mein Retter, dann kennst du den Unterschied zwischen ihrem und deinem Haar. Überdies würde es mich sehr wundern, wenn auch nur einer deine grasgrünen Augen besäße.”
”Falgon meint, die hätte ich von meiner Mutter.”
”Daran zweifle ich nicht. Hat er dir nicht erzählt, dass sie eine Sirila war?”
Der Junge blickte überrascht zu dem Alten. ”Ist das wahr, Oheim?”
Sein Ziehvater brachte nur ein verunglücktes Lächeln zustande.
Twikus schnappte nach Luft. ”Aber du weißt doch, wie sehr ich danach gehungert habe, irgendetwas von Mutter zu erfahren.”

Schekira erhob sich sirrend in die Luft, schwebte zu ihm herüber und landete auf seiner Schulter. Nachdem sie sich dort niedergelassen hatte, sagte sie sanft: ”Jetzt sei ihm nicht böse, mein Retter. Er hat es nur gut mit dir gemeint.”
”Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich unbedingt selbst darauf kommen musste, dass zwei Jungen in meinem Körper stecken.”
Es ist ebenso mein Leib wie der deine, meldete sich Ergils schnippische Stimme.
”Das hat mit deiner Natur zu tun”, erklärte Falgon, dem der innere Disput der beiden entging. ”Du bist ein Sirilim-Zwilling. Das bedeutet, ihr zwei teilt euch einen Körper. Er gehört also nicht dir allein, sondern auch Ergil.”

Siehst du!, sagte ebender.
Halt deinen Mund!, entgegnete Twikus.
Danke, dass du ihn mir freiwillig überlässt. Was willst du dafür haben? Ich könnte dir einen Zeh anbieten oder …

”Ihr dürft euch das nicht so vorstellen, dass euer Körper in der Mitte geteilt ist”, bemerkte Schekira, als ahne sie, worüber die beiden Brüder stritten, ”sondern jede seiner Fasern gehört dem einen wie dem anderen.”
”Dann sag das mal Ergil. Er hat vorhin versucht meine Beine unter seine Gewalt zu bringen”, murrte Twikus.
Nur weil du so rumgetrödelt hast, verteidigte sich der Angeklagte.
”Als ich noch ein kleines Elvenmädchen war, habe ich meine Mutter ständig in den Ohren gelegen, damit sie mir mehr über die Sirilim-Zwillinge erzählt. Auch unter uns Elven werden nämlich hin und wieder solche Kinder geboren, allerdings noch seltener als beim Volk der Weisen. Einmal sagte sie: ‚Ich bin froh, kleine Kira – so hat sie mich immer genannt –, dass du kein Sirilim-Zwilling bist, denn dann müsste ich viele Dinge in meinem Herzen aufbewahren, die ich dir so schon heute sagen darf.’ Meine Mutter meinte, einem dieser Zwillinge seine wahre Natur zu offenbaren, sei genauso falsch, wie einem Küken vor der Zeit die Eierschale aufzubrechen: Es muss diese Anstrengung aus eigener Kraft schaffen, um stark genug für das Leben zu sein.”
”Hat dir deine Mutter auch etwas über unsere Träume erzählt?”
”Ja. Es heißt, lange bevor sich die Zwillinge das erste Mal begegnen, sehen sie die Welt auch durch die Augen des anderen.”

Falgons tiefe Stimme verschaffte sich Gehör. ”Dazu kann ich etwas sagen – hab euch zwei ja lange genug beobachten können. Ihr seid immer abwechselnd wach gewesen. Wenn mich heute Ergil mit seinen Fragen löcherte, dann musste ich morgen Twikus von meinen Schwertern verscheuchen; einen Tag lang führte also der eine Bruder euren Körper spazieren und am nächsten wieder der andere.”
Twikus hatte sichtlich Mühe, die ganze Tragweite seiner ungewöhnlichen Existenz zu begreifen. ”Dann habe ich ja von den zehn Jahren, die ich jetzt bei dir bin, die Hälfte versäumt.”
Einmal mehr meldete sich Ergil zu Wort. Du vergisst die Träume, Bruderherz. Jetzt ist mir alles klar! Wie oft konnte ich sehen, was du erlebt hast.
Hoffentlich nicht immer, gab Twikus zu bedenken.
Nein, ab und zu muss ich auch geschlafen haben. Aber es ist schon erstaunlich, wie oft du mit den Waffen des Oheims gespielt hast.
Wehe, du verpetzt mich!
Was ist dann? Willst du mich auf deine Nase schlagen?
”Darf ich euch zwei kurz unterbrechen?”, fragte Schekira von Twikus’ Schulter her.
”Woher weißt du …?”
”Wenn ihr euch miteinander unterhaltet, ist euer Mienenspiel ein offenes Buch. Darin zu lesen, fällt nicht schwer.”
”Mir graut davor, mit Ergil einen einzigen Körper zu bewohnen. Er ist ein Besserwisser.”
Bin ich gar nicht.
”Und ob!”
Dann bist du ein Holzkopf, der außer der Jagd …

”Twikus?”, versuchte Schekira erneut seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
”Was ist?”
”Da gibt es noch etwas Wichtiges, das ich dir sagen muss.”
”Ich höre. Ergil macht sowieso, was er will.”
”Genau darum geht es. Meine Mutter hat mir oft von etwas erzählt, das sie die ‚schwerste Prüfung für Sirilim-Zwillinge’ nannte. Bevor sich die Geschwister das
erste Mal begegnen, leben sie Seite an Seite im selben Körper und ahnen voneinander nur aus ihren Träumen, aber nachdem das Siegel gebrochen ist, müssen sie lernen ‚ihr Herz im Spiegel zu betrachten’ – genau diese Worte hat sie benutzt.”
Schekiras sanfte Stimme wirkte auf den Jüngling so beruhigend wie der Klang einer vom Bogen gefühlvoll gestrichenen Saite. Twikus’ Unmut über den uneingeladenen Mitbewohner löste sich auf. Nur die Verwirrung ließ sich nicht so schnell vertreiben. ”Ein gespiegeltes Herz? Was soll das sein?”
”So schwer ist das doch gar nicht zu begreifen, mein Retter. Wenn du jemanden oder etwas vor einem Spiegel betrachtest, dann siehst du es oder ihn doppelt. Beide Seiten – das Davor und das Dahinter – erscheinen sehr ähnlich, obwohl sie kaum unterschiedlicher sein können. So ist es mit dem gespiegelten Herzen von Sirilim-Zwillingen. Sie fühlen es, der eine wie der andere, als besäße jeder ein eigenes, und trotzdem gibt es nur ein einziges. Hört es auf zu schlagen, dann sterben beide Geschwister. Deshalb dürfen sie sich nie bekämpfen, sondern müssen in Harmonie miteinander leben. Und das bedeutet zu teilen.”

(Gefunden auf der Homepage des Thienemann Verlages)

Aus:
Ralf Isau
Chroniken von Mirad – Das gespiegelte Herz
Thienemann Verlag // € 18,–
erscheint in diesem Monat