Ich musste sie dort herausholen, das war das Wichtigste. Annie, meine ich – meine Schwester. Als ich sie dort auf dem Küchenfußboden liegen sah, die Frau des Meisters über ihr und Annie ganz weiß und reglos, durchfuhr mich etwas Kaltes, wie ein Schatten. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«, sage ich und der alte Bert versetzt mir eine schallende Ohrfeige. »So redest du nicht mit der Meisterin«, sagt er.
Ich sinke neben Annie auf die Knie. Auf den Steinplatten vom Fußboden kann ich Blut sehen, dort wo ihr Kopf liegt.
»Annie«, flüstere ich. »Schaff sie mir raus«, sagt die Frau Meisterin, mit einem Gesicht, das selbst wie aus Stein aussieht, und der alte Bert, mit seinen Armen wie Baumstämme, wirft sich Annie so leicht über die Schulter wie ein Lamm oder ein Ferkel, und mit dem anderen Arm packt er mich am Schlafittchen und zieht mich vom Boden hoch. Und hinaus geht es, wobei meine Füße polternd über den Boden schaben, hinaus in die eiskalte Nacht. Der alte Bert tritt die Tür zum Hühnerschuppen auf und schleudert erst Annie und dann mich hinein. Alle Hennen beginnen sofort aufgeregt zu gackern. Annie landet mit einem leisen Plumps auf einem Sack und ihr Kopf rollt zur Seite.
Ich lande auf den Knien, meine Hand schlägt auf etwas Scharfes, Hartes. Die Kante einer Schaufel. »Die Scheune ist voll«, sagt Bert. »Ihr müsst die Nacht über hier bleiben. Und denkt dran …«, sein großes fleischiges Gesicht kommt näher und sein saurer Atem hüllt uns ein, »dass ihr mir ja nicht die Hühner aufscheucht. Wenn ich die Hühner da heut Nacht höre, verfüttere ich euch im Morgengrauen an die Schweine.« Das war seine Lieblingsdrohung.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich ihm nicht glaubte, doch ich hatte ihm früher schon beim Füttern der Schweine zugesehen. Eimerweise Schweinefutter mit irgendwelchen Klumpen drin, die aussahen, als könnten sie irgendwann einmal ein Auge oder eine Nase gewesen sein.
Der alte Bert beugt sich noch einen Moment lang über uns, mit rasselndem Atem im Brustkorb. Ich warte darauf, dass er mich tritt, und die Haut an meinem ganzen Körper zieht sich zusammen, aber nichts geschieht.
Schließlich sagt er: »Gemolken wird um vier. Dann komme ich wieder. Und: Dass ihr mir ja nicht die Hühner aufscheucht!« Dann geht er, und alle Hühner flattern wie wild herum, als er die Tür aufstößt und sie wieder zutritt. Ich höre, wie draußen das große Brett als Riegel vorgeschoben wird. Hat jemand schon einmal versucht, Hühner nicht zu stören? Ich bewege meine Hand, die Schaufel schabt über den Boden, und gackernd flattern sie auf. Es sind nur sechs, trotzdem machen sie genügend Radau. Ich schleppe mich hinüber zu Annie und sie fangen schon wieder an, nicht ganz so heftig diesmal.
»Annie?«, sage ich und alle Hühner gackern. Ich halte den Atem an. Ich versuche es wieder, leiser diesmal, »Annie«, und nehme ihre Hand. Sie ist erfroren, so wie meine. Ich halte mein Gesicht dicht über ihre Brust und kann sie atmen hören – ganz schwach. Ich habe sie schon früher bewusstlos gesehen, aber noch nie so, nicht so weiß und so reglos.
»Stirb mir nicht, Annie«, murmele ich und leises Gegacker wogt durch die Scheune. »Dass du mir bloß nicht stirbst.« Hoch oben ist ein Loch, wo ein Stück vom Dach heruntergekommen ist und ein Haufen Schnee gleich mit.
Hereinfallendes Mondlicht färbt alles grau; graue hagere Hennen, die uns beäugen. Annies graues Gesicht. Wenn sie stirbt, werde ich mutterseelenallein sein – mit ihnen. Mit dem alten Bert, dem jungen Bert, dem Meister und der Meisterin. Ich war noch nie in meinem Leben allein. Immer ist Annie bei mir gewesen. Der Schuppen stinkt. Überall liegt Hühnerdreck. Und es ist eisig kalt. Der härteste Winter seit zwanzig Jahren, hat der alte Bert gesagt. Jeden Morgen müssen wir das Eis von den Mäulern der Kühe brechen, wo der Dampf ihres Atems an ihnen festgefroren ist.
Ich spüre meine Finger nicht mehr und habe furchtbaren Hunger. Zum Frühstück gab es nur trockenes Brot, hart wie Stein, nur bröckeliger. Ich ertappe mich dabei, wie mein Blick zwischen den grauen, dürren Hühnern hin und her wandert und ich mich frage, ob ich nicht eins roh essen könnte und ob der alte Bert es wohl merken würde. Anscheinend macht der Hunger mich verrückt. Der alte Bert würde mich natürlich umbringen, andererseits sterbe ich vielleicht sowieso, unter einer Eisschicht und verhungert in der Dunkelheit. Dann sterbe ich vielleicht doch lieber mit einem Huhn zwischen den Zähnen.
(Gefunden auf der Homepage des Carlsen Verlages)
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Tintenblut
Chroniken von Mirad