Leseproben Teil 4: »Das Schloss der Frösche«


Das Mondlicht

Ich weiß nicht mehr genau, wie alles angefangen hat, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich im Mondlicht über verharschten Schnee ging. Schon das ist ziemlich seltsam, denn normalerweise gehen Kinder nicht nachts, wenn der Mond wie ein fetter Ballon über den Tannenwipfeln steht, allein in den Wald. Aber in dieser Nacht gab es noch viel mehr Seltsamkeiten.

Als ich an dem großen Teich vorüber war, wo mein Vater und ich uns immer auf den Bauch legten, um nach Kaulquappen Ausschau zu halten, entdeckte ich plötzlich ein Wichtelmännchen. Das wäre vielleicht weniger überraschend gewesen, wenn das Wichtelmännchen zwischen den Bäumen herumgeschlichen wäre oder so, aber das tat es gerade nicht.

Ich hatte mich kurz in den Schnee gesetzt, weil ich über irgendetwas nachdenken musste. Und plötzlich tauchte dieser Wichtel auf. Es war, als wäre er von irgendwoher aus der Luft herausgewachsen. Er war ganz in Grün gekleidet, abgesehen von der roten Wichtelmütze natürlich, die alle Wichtel tragen. Er war ein bisschen kleiner als ich – obwohl er schon erwachsen war und auch nicht mehr ganz jung.

»Ach«, sagte er, als er endlich so deutlich zu sehen war wie die Bäume ringsum. Das war im selben Augenblick, als er den zweiten Arm aus dem herauszog, was auf der anderen Seite der Luft sein muss.

»Ach«, wiederholte er mit energischer Stimme.

Ich fand das eine seltsame Art, ein Gespräch anzufangen, denn wenn man nur »Ach« sagt, meint man doch im Grunde nicht mehr, als dass der andere bitte antworten soll.

»Wieso denn ›Ach‹?«, fragte ich vorsichtig.

Der Wichtel schaute zu mir hoch und kniff die Augen zusammen, als ob ihm das Mondlicht nicht recht passte.

»Du machst also einen kleinen Spaziergang«, sagte er.

Auch dazu gab es nicht viel zu sagen. Wieso hätten wir uns sonst vor dem Salamanderteich im Schnee treffen sollen?

Nur um ihm eins auszuwischen, hätte ich gern »Nein« gesagt. Aber ich sagte: »Da bin ich nicht der Einzige.«

Ich hielt das für eine passende Antwort, aber der Wichtel sah das anders.

»Doch, das bist du. Du bist der Einzige, der hier im Schlafanzug im Mondlicht herumstolziert«, sagte er.

Ich schaute an meinem hellblauen Schlafanzug mit den Bildern von Autos und Motorrädern hinunter. Ich hatte ganz vergessen, dass ich im Schlafanzug unterwegs war, und hätte mich am liebsten irgendwo versteckt. Leider ist es nicht so leicht, sich vor einem Wichtel zu verstecken, der einen gerade auf frischer Tat ertappt hat.

»Der ist bei jedem Wetter sehr bequem«, sagte ich so erwachsen, wie ich konnte. »Und wenn du es komisch findest, dass ich einen Schlafanzug anhabe, dann finde ich es noch komischer, dass du ein Wichtel bist.«

Er wiederum schien fest entschlossen, bei diesem Tauziehen Sieger zu bleiben. Er zeigte an mir hoch und sagte: »Das Allerkomischste ist, dass du barfuß im Schnee herumläufst. Du musst ja bettelarm sein, wenn du noch nicht mal Pantoffeln hast.«

Wieder musste ich an mir hinunterblicken, und was ich da sah, war mir noch peinlicher als die Sache mit dem Schlafanzug: Ich entdeckte, dass meine Füße vollkommen nackt waren, und gleichzeitig merkte ich, wie sehr ich an den Zehen fror. Ich sehnte mich nach einer warmen Decke, aber dieser Gedanke war so blödsinnig, dass ich mich nicht traute, ihn laut auszusprechen. Selbst bei Vollmond und hohem Schnee schleppt man schließlich keine schwere Decke durch den Wald.

»Meine Eltern sind sehr reich«, sagte ich. »Zum Beispiel wohnen wir in einem großen Haus mit Terrasse und Liegestühlen. Wenn meine Eltern wollten, könnten sie mir über tausend Pantoffeln kaufen, aber sie meinen, Barfußlaufen sei gesund, und manchmal sagen sie auch, ich sei ein kleiner Prinz.«

Das fand er offenbar interessant.

»Und wie heißt bitte sehr unser Prinz?«, fragte er nach einer tiefen Verbeugung.

»Ich heiße Kristoffer Poffer«, antwortete ich feierlich. Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich konnte schließlich nicht sagen, dass ich Kristoffer Hansen hieß, denn dann hätte er mich garantiert nicht mehr für einen echten Prinzen gehalten.

»Sehr interessant«, sagte der Wichtel. »Ich habe nämlich in einem alten Buch gelesen, dass diese Sorte Prinzen sehr gern Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade isst. Rein zufällig habe ich gerade eine ganze Wagenladung Pfannkuchen gebacken. Und in meinem Garten gibt es jede Menge Erdbeeren.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Wenn Erwachsene sich wichtig machen wollen, geben sie gern mit solchen Sachen an: wie gut ihre Pfannkuchen sind und so. Ich starrte in den Schnee und überlegte, dass es in dieser Jahreszeit sowieso keine Erdbeeren gab. Aber ich traute mich nicht, ihm zu widersprechen; ich wusste schließlich, dass Wichtel viel klüger sind als Kinder.

(Gefunden auf der Homepage des Hanser Verlages)

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